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Epistemische Formationen

Die Erkenntnistheorie stellt derzeit eines der innovativsten Gebiete von Fra gestellungen dar, in dem die mittelalterliche Philosophie nicht nur in rezeptions-, problem- und ideengeschichtlicher Perspektive eine zentrale Stellung einnimmt, die alle philosophischen Sprachtraditionen (systematisch und kulturell) gleichermaßen umfasst und durchkreuzt. Im Ausgang von den antiken Traditionen entwickeln sich eigenständige Theoreme, die insbesondere in den intellekttheoretischen, vermögenspsychologischen und epistemologischen Debatten, die vom 13. Jahrhundert bis in die Renaissance und in die frühe Neuzeit reichen, aufeinandertreffen und sich bisweilen miteinander zu neuen Modellen verbinden (verwiesen sei exemplarisch auf den „augustinisme avicennisant“, auf die averroistische Intellektlehre sowie auf die Verbindung von aristotelischer und ps.-dionysischer Noetik). Blickt man auf moderne Diskussionen in dem skizzierten thematischen Umfeld, so wird zudem deutlich, in welchem Maße gerade die mittelalterliche Philosophie in epistemologischer, ontologischer und psychologischer Hinsicht über Modelle und Fragestellungen verfügt, die einen signifikanten argumentativen Mehrwert und zugleich eine Fülle interdisziplinärer Bezüge besitzen.
Dies gilt ebenso für das benachbarte Gebiet der Wissenschaftstheorie, die durch das Bemühen, die Natur des neu aufgenommenen griechischen Wissens überhaupt zu verstehen, die Ordnung dieser Wissenschaften zueinander zu bestimmen und den autochthonen Wissensbereichen, insbesondere der Offenbarungstheologie, in ihr einen angemessenen Platz zuzuweisen, einen großen Bedeutungszuwachs erfährt. Hierbei wird – etwa in den Prologen zu den großen Kommentaren – die aristotelische Wissenschaftstheorie erstmals systematisch auf die jeweilige Wissenschaft angewandt. Im Gefolge der Versuche, den Gegenstand und damit die Grenzen und Methoden einer jeden Wissenschaft zu bestimmen, kommt zudem der Erkenntnistheorie eine immer größere Rolle zu, wie sich etwa an der durch Avicenna angestoßenen Frage nach dem Ersterkannten und ihrem Einfluss auf die Entwicklung der Transzendentalienlehre zeigt.