Forschung
Forschungsfelder
Wissensdiskurse und Transformationsprozesse
Die Wissensdiskurse jenes Millenniums, das wir ungeachtet der Inadäquatheit dieses Epochenbegriffs gewöhnlich als „Mittelalter“ bezeichnen, haben ihre gemeinsamen Voraussetzungen in der je unterschiedlichen Rezeption spätantiker Gelehrsamkeit, die sich auf institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen bezieht, aber auch auf die unterschiedlichen sprachlichen und religiösen bzw. theologischen Rahmenbedingungen sowie auf die vielgestaltigen Rationalisierungsprozesse in den unterschiedlichsten Wissensfeldern. Stichworte wie „Dionysiusrezeption“, „Aristotelesrezeption“ oder „Averroismus“ verweisen auf ein komplexes Gefüge mittelalterlicher Wissensformationen, das als Ergebnis umfassender Rezeptions- und Transformationsprozesse, von Vermittlungs- und Übersetzungsvorgängen begriffen werden kann. Ihre Erforschung setzt eine enge Verflechtung philologischer, philosophischer und historischer Kompetenzen voraus.
Vier Kultursprachen – vier philosophische Kulturen
Ein Grundmotiv der Forschungs- und Editionsprojekte des Thomas-Instituts besteht darin, die gesamte Breite dieser Wissensdiskurse und Überlieferungszusammenhänge zu überschauen. Das heißt vor allem, die vier Kulturkreise in den Blick zu nehmen, die sich das griechisch-antike Erbe teilen: den byzantinischen, lateinischen, arabischen und hebräischen Kulturkreis. Die jeweilige Akkulturation der griechischen Philosophie und Wissenschaft unter der gemeinsamen Bedingung des Monotheismus verbindet zum einen die vier sich entwickelnden philosophischen Kulturen grundsätzlich, zum anderen steuert sie und regt sie ihre Austauschbeziehungen an. Durch die Berücksichtigung aller vier Kultursprachen und der entsprechenden philosophischen Kulturen ergibt sich ein vertieftes Verständnis jeder einzelnen wie auch einzelner Rezeptionsprozesse. Das geschieht mit Blick auf die Forschung einerseits durch die Präsenz von Einzelprojekten aus den Kulturkreisen, insbesondere jedoch durch die Erforschung von Übersetzungen als den Scharnieren der Rezeption und Transformation.
Epistemische Formationen
Die Erkenntnistheorie stellt derzeit eines der innovativsten Gebiete von Fragestellungen dar, in dem die mittelalterliche Philosophie nicht nur in rezeptions-, problem- und ideengeschichtlicher Perspektive eine zentrale Stellung einnimmt, die alle philosophischen Sprachtraditionen (systematisch und kulturell) gleichermaßen umfasst und durchkreuzt. Im Ausgang von den antiken Traditionen entwickeln sich eigenständige Theoreme, die insbesondere in den intellekttheoretischen, vermögenspsychologischen und epistemologischen Debatten, die vom 13. Jahrhundert bis in die Renaissance und in die frühe Neuzeit reichen, aufeinandertreffen und sich bisweilen miteinander zu neuen Modellen verbinden (verwiesen sei exemplarisch auf den „augustinisme avicennisant“, auf die averroistische Intellektlehre sowie auf die Verbindung von aristotelischer und ps.-dionysischer Noetik). Blickt man auf moderne Diskussionen in dem skizzierten thematischen Umfeld, so wird zudem deutlich, in welchem Maße gerade die mittelalterliche Philosophie in epistemologischer, ontologischer und psychologischer Hinsicht über Modelle und Fragestellungen verfügt, die einen signifikanten argumentativen Mehrwert und zugleich eine Fülle interdisziplinärer Bezüge besitzen.
Dies gilt ebenso für das benachbarte Gebiet der Wissenschaftstheorie, die durch das Bemühen, die Natur des neu aufgenommenen griechischen Wissens überhaupt zu verstehen, die Ordnung dieser Wissenschaften zueinander zu bestimmen und den autochthonen Wissensbereichen, insbesondere der Offenbarungstheologie, in ihr einen angemessenen Platz zuzuweisen, einen großen Bedeutungszuwachs erfährt. Hierbei wird – etwa in den Prologen zu den großen Kommentaren – die aristotelische Wissenschaftstheorie erstmals systematisch auf die jeweilige Wissenschaft angewandt. Im Gefolge der Versuche, den Gegenstand und damit die Grenzen und Methoden einer jeden Wissenschaft zu bestimmen, kommt zudem der Erkenntnistheorie eine immer größere Rolle zu, wie sich etwa an der durch Avicenna angestoßenen Frage nach dem Ersterkannten und ihrem Einfluss auf die Entwicklung der Transzendentalienlehre zeigt.
Vom Text zum Hypertext
In mancher Hinsicht gleichen die Wirkungen des Aufschwungs der digitalen Technik auf dem Gebiet der Editionen sowie die neuen Verbreitungs-, Bearbeitungs- und Erschließungsmöglichkeiten von Texten mithilfe dynamischer Querverweise und Auszeichnungssysteme (Hypertext) den Folgen der Erfindung des Buchdrucks. Insbesondere für die Edition von Texten, die in verschiedenen unabhängigen Versionen überliefert sind, eröffnen sich vielversprechende Darstellungs- und Rechercheoptionen. Auch für die Dokumentation und Erschließung großer Textkorpora, die Bearbeitungen und Retroversionen in mehreren Sprachen umfassen, ergeben sich bedeutende Chancen einer einheitlichen und doch für individuelle Forschungsansätze offenen Bereitstellung. Um diese Möglichkeiten wissenschaftlich angemessen zu nutzen und die von den Techniken digitaler Texterfassung angeregten Systematisierungen, etwa der Handschriftenbeschreibung, aktiv mitzugestalten, engagiert sich das Thomas-Institut in entsprechenden Projekten und arbeitet an der Entwicklung neuer nachhaltiger Darstellungslösungen.
Digitale Plattformen / Editionen
CCeH
Schedula-Portal
Meister-Eckhart-Archiv digital
summa21
Wilhelm von Auxerre: Summa de officiis ecclesiasticis
DDRP
Autorenzentrierte Forschung
Averroes
Ibn Bāğğa
Thomas von Aquin
Meister Eckhart
Durandus
Cusanus
Thomas von York
Robert Grossetesste
Moses Maimonides
Bonaventura
Guillelmus Petri de Godino
Shem Tov Ibn Falaquera
Ideen- und Transmissionsgeschichtliche Forschung
Philosophie und Weisheit im Mittelalter
Ein Beitrag zur Genese des abendländischen Philosophieverständnisses
Die Frage nach dem Ursprung der Philosophie verbirgt sich hinter einer begriffsgeschichtlichen Aitiologie, die auf eine grundlegende Diskursstruktur verweist, in der zu allen Zeiten stets wieder neu die Selbstverständigung darüber geschieht, was Philosophie ist. Bei der Rekonstruktion der „Liebesgeschichte“ zwischen Philosophie und Weisheit kommt dem gewöhnlich wenig beachteten Mittelalter eine besondere Bedeutung zu. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird das aristotelische Modell einer philosophischen Weisheit zum Ausgangspunkt kontroverser Debatten um das Selbstverständnis der Philosophie, die auf neuzeitliche Problemstellungen hinführen. Weitere „case-studies“ sind im Berichtszeitraum entstanden. Die darin herausgearbeiteten Ergebnisse sollen in einer Gesamtstudie zusammengefasst und abschließend bewertet werden.
Mitarbeiter: Andreas Speer
Neue Perspektiven der Historiographie mittelalterlicher Philosophie
Was mittelalterliche Philosophie sei, diese Frage hat nicht erst seit Gilsons wirkmächtigen Versuchen einer Fixierung zu immer neuen Antworten geführt, die zumeist durch das jeweilige zugrundeliegende Philosophieverständnis und die damit verbundenen Einschluss- und Ausschlussmechanismen bestimmt waren. Nicht zuletzt das Bewusstsein für die Eigendynamik der unterschiedlichen Kulturkreise, in denen das spätantike Erbe der Philosophie seinen Weg in die Moderne nimmt, fragt nach einer genaueren Bestimmung ihrer Interaktion und nach neuen Darstellungsweisen abseits der etablierten „Meistererzählungen“. Nach mehreren Einzelstudien in den vergangenen Jahren ist hierzu in diesem Jahr ein Buch mit dem Titel „1000 Jahre Philosophie. Ein anderer Blick auf die Philosophie des ‚Mittelalters‘“ (Paderborn: mentis/Brill, 2023) erschienen.
Mitarbeiter: Andreas Speer
Die Rezeption der Aristotelischen Physik (Bücher I-II) im 13. Jahrhundert
Im Laufe des 13. Jahrhunderts wird die Physik des Aristoteles zu einem zentralen Lehrbuch des philosophischen Curriculums, das sowohl an den Artistenfakultäten wie auch in den Ordensschulen regelmäßig gelesen und kommentiert wurde. Im Mittelpunkt des vorliegenden Projekts steht die Rezeption der Bücher I und II, die einigen Grundthemen der aristotelischen Naturphilosophie, nämlich dem Problem der Prinzipien der Veränderung, dem Naturbegriff und den Begriffen der Notwendigkeit und des Zufalls, gewidmet sind. Die Kommentartradition soll durch kritische Editionen und inhaltliche Studien beleuchtet werden.
A) Das Projekt hat zwei Schwerpunkte:
1) Die aristotelische Physik an der Artistenfakultät in Oxford ca. 1250-1270
Vielleicht als Folge der wiederholten Lehrverbote an der Universität Paris (1210, 1215, 1231) ist für den Zeitraum 1250-1270 die Anzahl der erhaltenen Kommentare aus der Pariser Artistenfakultät bei weitem geringer als diejenige der Kommentare, die aus den englischen Artistenfakultäten (vor allem aus Oxford) stammen. Aus dieser Zeit sind nicht weniger als zehn – in den meisten Fällen anonyme – Quästionen-Kommentare erhalten, die mit Sicherheit oder mit großer Wahrscheinlichkeit an der Oxforder Artistenfakultät verfasst wurden und ein wichtiges Zeugnis für den Oxforder Aristotelismus um die Mitte des 13. Jahrhunderts liefern. Das vorliegende Projekt ist auf die – inhaltlich engverwandten und bisher wenig erforschten – Bücher I-II der Kommentare fokussiert, in besonderen Fällen wird es sich aber auch auf andere Teile der Kommentare erstrecken. Die vollständige Edition der verschiedenen Redaktionen des Kommentars des Oxforder Magisters Galfridus de Aspall († 1287) ist bereits erschienen (S. Donati/C. Trifogli/E. J. Ashworth, ‚Auctores Britannici Medii Aevi‘). Zurzeit wird die Edition von zwei miteinander verwandten Kommentaren vorbereitet: Anonymus, Quaestiones super Physicam, I-IV, Hs. Cambridge, Gonville and Caius College, 367 (Bücher I-II = ff. 120ra-125vb, 136ra-139rb); Anonymus, Quaestiones super Physicam, I-V, Hs. Oxford, Merton College, 272, ff. 136ra-174rb (Bücher I-II = ff. 136ra-152rb). Die Edition der Bücher I-II des anonymen Kommentars aus der Cambridge-Hs. befindet sich in einem fortgeschrittenen Zustand. Von den Büchern I-II des anonymen Kommentars aus der Oxford-Hs. liegt eine Transkription vor. Vorarbeiten zur Edition sind auch für die folgenden miteinander verwandten Kommentare durchgeführt worden: Anonymus, Sententia supra librum Physicorum ‚extracta de commento de verbo ad verbum‘, I-VI, Hs. Oxford, Bodleian Library, lat. misc. C. 69, ff. 1ra-41rb (Bücher I-II = ff. 1ra-14va); Anonymus, Quaestiones super Physicam, I-VIII, Hss. Cambridge, Gonville and Caius College, 509, ff. 1ra-51rb (Bücher I-II = ff. 1ra-26ra); Siena, Biblioteca Comunale degli Intronati, L.III.21, ff. 1ra-92ra (Bücher I-II = ff. 1ra-39vb); Anonymus, Quaestiones super Physicam, I, III-IV, Hs. Oxford, Merton College, 272, ff. 119ra-135Crb (Buch I = ff. 119ra-125ra); Anonymus, Quaestiones super Physicam, I-IV, VI, Hs. Oxford, New College, 285, ff. 118ra-162ra (Bücher I-II = ff. 118ra-132ra); Ps. Petrus Guentin de Ortenberg, Quaestiones super Physicam, I-IV, Hss. Firenze, Bibl. Naz. Centr., Conv. Soppr. A.V.563, ff. 1ra-125vb (Bücher I-II = ff. 1ra-69va), London, Wellcome Hist. Med. Libr., 333, ff. 8ra-68vb (Bücher I-II = ff. 8ra-52ra). Von Buch I bzw. I-II dieser Kommentare liegt eine Transkription vor.
2) Historisch-kritische Edition der Bücher I und II des Physikkommentars des Aegidius Romanus
Der ca. 1274/75 in Paris entstandene Physikkommentar des Augustinereremiten Aegidius Romanus ist in 30 vollständigen Handschriften überliefert. Diese handschriftliche Überlieferung zeigt eine komplexe Struktur, die eine universitäre – d. h. eine aus einem sogenannten universitären exemplar stammende – Tradition sowie auch eine von der universitären unabhängige Tradition umfasst. Zu Buch I (Silvia Donati) und Buch II (Thomas Dewender †) ist der Text auf der Basis von 8 Handschriften konstituiert und die Quellen sind nachgewiesen worden. Revisionsarbeiten und die Vorbereitung der historisch-philologischen Einleitung stehen noch bevor. Die Edition soll im Rahmen der Aegidii Romani Opera omnia der Unione Accademica Nazionale erscheinen.
B)
Im Mittelpunkt der inhaltlichen Untersuchung steht der Materiebegriff. Der Begriff der Materie wird von Aristoteles in Buch I der Physik im Rahmen der Erforschung der Prinzipien der Veränderung eingeführt. Die aristotelische Analyse ist für die Kommentatoren Ausgangspunkt für ausführliche Diskussionen, in denen sie die verschiedenen Aspekte ihrer Materielehren erläutern. Zur Zeit in Vorbereitung ist eine Studie zum ontologischen Status und zur Erkennbarkeit der Materie in der Kommentartradition des 13. Jahrhunderts.
Mitarbeiterin: Silvia Donati