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Aktuelles

In memoriam Bruno Latour

In der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober ist Bruno Latour im Alter von 75 Jahren verstorben.

Bruno Latour, der im Jahre 2015 die Albertus-Magnus-Professur an der Universität zu Köln innehatte, gilt als einer der weltweit wichtigsten Intellektuellen. Die Arbeit des 1947 in Beaune geborenen Professors an der Sciences Po umfasste ein weites Feld soziologischer und philosophischer Fragen, die er gerade in den letzten Jahren in seinem Gaia-Projekt verstärkt auch mit Fragen der Ökologie und des Klimawandels verknüpft hat. Er, der sich selbst als „empirischer Philosoph“ begriff, war der Begründer der Akteur-Netzwerk-Theorie, die das übergreifende Theoriemodell seiner Arbeiten ist. Diese reichen von der Wissenschaftssoziologie – Anfang der Neunziger wurde er so ein wichtiger Akteur der science wars – bis hin zur Frage, wie wir, als Teil des Planeten im Angesicht des Klimawandels, nicht nur unsere menschlichen Interessen, sondern auch die der nicht-menschlichen Akteure berücksichtigen können. Seine Idee des „Parlaments der Dinge“, in dem auch die nicht-menschlichen Bewohner des Planeten Erde mitentscheiden, überträgt die Grundüberlegungen der ANT auf planetarische Maßstäbe. Eine wichtige, nicht nur wissenschaftssoziologische Einsicht Latours ist die Erkenntnis der unauflöslichen Verknüpfung der Wissenschaften mit einem komplexen System verschiedener Akteure: Die Wissenschaft kann nicht einfach von einem idealen Standpunkt aus Objektivität produzieren – sie produziert diese immer nur im Verbund mit allen Beteiligten. Die Beteiligten sind nicht nur diejenigen, die im Labor stehen, sondern auch die Untersuchungsobjekte, die Politik, die Gesellschaft. Die Wissenschaft ist so selber nur ein Akteur in einem komplexen Netzwerk. Latour folgte also nicht nur den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bei ihrer Arbeit im Labor, sondern auch denjenigen, die sich in den Petrischalen befanden. In Die Hoffnung der Pandora hat Latour dies an verschiedenen Beispielen (Pasteurs Mikroben, der Versuch der Entwicklung einer Atombombe durch Joliot) zeigen können. Die Wissenschaft muss ihre Objekte und gesellschaftlichen Unterstützungsnetzwerke rekrutieren, umgekehrt rekrutieren aber auch diese die Wissenschaft. Die letzten Jahre, geprägt von Klimawandel, Pandemie und Krieg haben gezeigt, wie wichtig diese Überlegungen sind: Wissenschaft ist nie eine Objektivitätsmaschine, sondern ökologischer Bestandteil eines Netzwerkes, das aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren besteht und von komplexen Interessenlagen durchdrungen ist. Bruno Latour hat uns gelehrt, den verschlungenen Pfaden der Dinge zu folgen, nicht über ihnen zu stehen, wenn wir sie und, unauflöslich mit ihnen verknüpft, unsere eigenen verschlungenen Pfade verstehen wollen.

Die von Latour im Jahre 2015 in Köln abgehaltenen Veranstaltungen, aber auch seine Texte sind lebhaftes Zeugnis dieses abenteurerhaften Erkundungsdrangs, der sich in beeindruckender Weise auch auf die Zuhörerinnen und Zuhörer, Leserinnen und Leser übertragen hat: Sie waren nie nur passiv und beobachtend im abgedunkelten Auditorium, sondern organischer Bestandteil seiner vorgetragenen Überlegungen und wurden so zu Akteuren. Wir trauern um einen großen Denker und Lehrer.
Lars Reuke